Viel wurde bereits geschrieben und gesprochen über «365 Days», den sogenannten Softcore-Film des polnischen Regieduos Barbara Białowąs und Tomasz Mandes. Darin verschleppt ein Mafioso (Massimo) eine Frau (Laura) und zwingt sie, sich in 365 Tagen in ihn zu verlieben. Spoiler: Das Vorhaben gelingt.

Diskutiert wird im Feuilleton wie in den Nischen des Social Web. Der Film sei genderstereotyp, frauenverachtend und verherrliche die Rape-Culture. Sosehr, dass verschiedene Organisationen, etwa die Juso Schweiz, die Produktion vom Streamingdienst Netflix verbannen wollen. Im Minimum soll eine Trigger-Warnung eingeführt werden.

Andere wiederum verstehen die Empörung nicht. Man(n) regt sich über politische Korrektheit und Zensur auf, Junge feiern den Film auf Instagram und Tiktok und (weibliche) Fans wünschen sich den Plot in ihr eigenes Leben.

So gespalten die Meinungen sind, so konsistent ist der Erfolg von «365 Days». Der Film rankt seit seinem Start Anfang Juni weltweit beharrlich in Netflix’ Topten und war in einigen Ländern während Tagen der meistgeschaute Titel.

Auch ich trug zum guten Ranking bei. Ich schaute mir den Film jedoch weniger (bis gar nicht) aus Konsum- oder Sensationslust an. Vielmehr wollte ich mir – und das sei keine Schutzbehauptung – selbst ein Bild machen.

Verstörendes Framing

Filmisch ist «365 Days» fast schon belustigend schlecht. Überästhetisierte Szenen, ungelenke Dialoge und holzschnittartige Figuren treffen auf Auslassungen, logische Brüche und unmotivierte Handlungen. Die Musik verleiht dem Streifen den Todesstoss. Der Guardian fasst die cineastische Nullnummer treffend zusammen.

Weit verstörender als die filmische Realisierung und die «künstlerische» Darbietung ist das Framing des Films. Netflix kategorisierte «365 Days» als Romantic Movie. Dabei erzählt dieses eine Freiheitsberaubung und strotzt vor übergriffigen und Vergewaltigungsszenen.

Viele Rezensionen und Reviews prangern dies zu Recht an (inzwischen hat Netflix das Romantic aus der Genrebeschreibung immerhin entfernt). Nachzulesen etwa in Vice oder in der Washington Post.

Weshalb aber ist «365 Days» trotz unterirdischer filmischer Leistung und verunglücktem Umgang mit sexualisierter Gewalt dermassen erfolgreich?

1. Corona

Nach Wochen und Monaten des Lockdowns und inmitten einer gesundheitlichen, wirtschaftlichen, teils auch politischen Krise sehnen wir uns danach auszubrechen. Möglichst weg von Quarantäne, Schutzregeln und Existenzangst. Auf nach Sizilien (dem Handlungsort), wo die alten Götter hemmungslos tobten und Goethe, von seiner Erstarrung als Weimarer Bürolist befreit, sein Arkadien fand.

Einen theistischen Bedeutungsrahmen spannen indes auch die opulent gedeckten Tafeln auf, an denen sich Laura und Massimo immer wieder gegenübersitzen. Sie erinnern an bacchantische Fest- und, ja, andere Gelage. An einer Stelle meint Laura ausserdem, Massimos Körper sei von Gott geformt und sein, nun ja, vom Teufel.

Sogar ausserhalb der Fiktion scheint das Göttliche im Spiel zu sein. Der Hauptdarsteller, Michele Morrone, musste lange ohne Engagement auskommen. Zu attraktiv war er für die meisten Casts, zu perfekt, weshalb er sich in Italien als Gärtner durchschlug. In der Tat: Morrone sieht surreal gut aus, zumindest inszeniert er sich so auf seinem Instagram-Account.

2. Wider die komplexen Verhältnisse

«365 Days» ist die Antithese zu Diversität und Gleichberechtigung. Der Film ist geschlechterstereotyp, heteronormativ und sexistisch – dabei platt, anstössig und brutal. Derart wider alles, was die Metoo-Bewegung angestossen hat, dass man den Macherinnen und Machern Kalkül unterstellen könnte. Und zwar gleich doppeltes.

Einerseits, weil «365 Days» eine vergangene Ordnung wiederaufleben lässt. Einen Ort, wo die Rollen klar und klar zugunsten des Mannes verteilt sind. Wer sich den Film anschaut, nimmt eine Auszeit aus unseren komplexen gesellschaftlichen, geschlechtlichen und sexuellen Verhältnissen.

Formal bleibt der Film indes korrekt. Denn geht man davon aus, dass eine so einfach gestrickte Ordnung immer schon ein patriarchales Konstrukt war, das die tatsächlichen gesellschaftlichen und individuellen Verhältnisse leugnete, ist es richtig, diese Ordnung als filmische Fiktion zu reproduzieren.

Andererseits ist die Produktion und insbesondere ihre Rahmung als ursprünglich «romantisch» und inzwischen schlicht «Buchverfilmung» und «polnischer Film» deswegen berechnend, weil sie feministische Errungenschaften erodieren lässt und ein Hohn gegenüber Menschen ist, die sexuelle oder strukturelle Gewalt erfahren mussten.

Was also für die einen eine wohltuende Abwechslung ist, ist für die anderen empörend bis traumatisch. Man wird den Verdacht nicht los, dass just diese Spreizung und Diversifizierung des Publikums gewollt ist. Dass die Entrüstung über die brachiale Zurschaustellung des wortwörtlichen Geschlechterkampfs dem Film genauso eingeschrieben ist wie dessen flache Story. Dass über «365 Days» diskutiert und gestritten werden soll – damit sich dies auszahlt.

3. Politische Debatte

There is no such thing as bad publicity. So unwahr dieser Satz für das Reputationsmanagement von Unternehmen, Organisationen und Persönlichkeiten zumeist ist, sosehr scheint das Axiom für Bücher, Filme und Musik zu stimmen. Auch bei «365 Days» kann die teils heftige Kritik dem Verkaufserfolg nichts anhaben. Im Gegenteil.

Die Diskussion, die weit über die üblichen Rezensionen hinaus geführt wurde und wird, dürfte dem Film erst zu seinem Höhenflug verholfen haben. Was die Schlagzeilen derart bestimmt, darf nicht verpasst werden, scheint es. Dabei spielt es keine Rolle, ob man sich den Streifen aus ernsthaftem Zeitvertrieb, aus gesellschaftspolitischem Interesse oder aus lauter Abscheu anschaut.

Unfreiwillige Karikatur

«365 Days» ist filmisch, inhaltlich und in der Vermarktung so daneben, dass der Film als Satire durchgehen könnte. Man wünschte es sich. Gleichwohl unbeabsichtigt, hat die Karikatur der leidlich bekannten Geschichte zwischen Mann und Frau ihr Gutes: Sie sorgt für eine dröhnende Auseinandersetzung zu einem Thema, das offensichtlich noch lange nicht fertig diskutiert ist.

Wie viel toxischer sind dagegen die hunderten, wenn nicht tausenden vermeintlich harmlosen Filme, in denen Frauen stereotypisiert und marginalisiert werden. Filme, in denen dem weiblichen Part lediglich die Nebenrolle der (Bett-)Partnerin, Bewunderin und/oder zu Beschützenden zukommt.

Die Gefährlichkeit dieser Produktionen liegt darin, dass das Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau kaum wahrnehmbar dargestellt wird. Es gibt keine plakativen Übergriffe und keine Gewalthandlungen gegenüber Frauen wie in «365 Days». Der Aufschrei bleibt entsprechend aus, ebenso die kollektive Reflexion. Schlimmer noch: Solche Filme vermitteln Rollenbilder, die ganze Generationen prägen.

Klug und politisch

«365 Days» ist in einem weiteren Punkt durchaus verdienstvoll. Nämlich darin, dass er seinem Publikum einen Spiegel vorhält. So bar jeder Vorstellung von Gleichwertigkeit, wie Laura und Massimo durch die Szenerie stolpern, scheinen viele auch den Film zu konsumieren.

Es gibt zwar Handlungsschnipsel, die Laura als selbstbestimmte Frau darstellen – sie ist beruflich erfolgreich und wehrt und hinterfragt sich mit Sätzen wie You don’t own me. und I am not your doll.

Schon der erste Shoppingtrip auf Massimos Kosten aber weicht Lauras Resistance auf. Mit Crescendo macht uns «365 Days» weis, dass das Leben trotz weiblicher Demütigung und Diskriminierung für alle in Ordnung ist, ja Spass macht.

Genau hier blendet der Film sein Publikum ein – wie es unbedacht vor dem Bildschirm sitzt.

Dieses Publikum lebt in einer Gesellschaft, die weibliche Care-Arbeit nicht honoriert und meint, Frauen und Männer seien beruflich gleichgestellt. In einer Gesellschaft, die den Herrenwitz weglächelt und an Polterabenden Stripper tanzen lässt. In einer Gesellschaft, in der es häusliche Gewalt gibt und T-Shirts, auf denen Girlpower steht.

«365 Days» mimt all diejenigen, die die Aufregung um diesen Film nicht verstehen und sich vorher 114 Minuten an Versace-Luxus, schönen Körpern und heissen Sexszenen sattgesehen haben.

Darin ist «365 Days» unfreiwillig klug und politisch.